MÄRCHEN
KUSS SURPRISE
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Nach einer Erzählung der Gebrüder Grimm unter dem Titel „Der Froschkönig“
Ich nahm die golden glitzernde Kugel, die ich im satten Grün der Teichumrandung entdeckt hatte, behutsam in die Hand und ließ mich in die dick gepolsterten Kissen unserer Terrassengarnitur fallen.
In wenigen Augenblicken würde die Abendsonne da versinken, wo sie es an den Frühsommer-Abenden am liebsten tat und ich genoss die angenehm friedliche Stille.
Die Amsel, die schon als frisch geschlüpfter Vogel ein Zuhause in unserem Garten gefunden hatte, hüpfte ausgelassen über die Wiese und zupfte mal hier und mal da einen Wurm aus dem Boden. Aus dem sumpfigen Wasser des Seerosenteiches drang ein beruhigendes Glucksen zu mir herüber.
In Gedanken kehrte ich zurück zum Beginn dieses schicksalhaften Tages. Ich hatte mit Gottfried um 8.00 Uhr gefrühstückt. Er hatte – wie jeden Morgen – hastig zwei Sesambrötchen und die Tages-zeitung verschlungen und ich hatte – wie jeden Morgen – meinen und seinen Orangensaft getrunken. Auch den von mir hingebungsvoll polierten Apfel hatte er – wie immer – verschmäht.
Beim Aufschneiden der Brötchen hatte er wieder mal den Tisch und den Fußboden voll gekrümelt und ich hatte davon geträumt, dass er die Zeitung beiseite legen und mich fragen würde: „Liebling, was hältst Du davon, wenn wir heute einen Ausflug machen? Das Auto ist voll getankt, das Zimmer gebucht. Du musst nur noch unsere Zahnbürsten einpacken.“
Du liebe Güte: Zahnbürsten. Ich hatte vergessen neue Zahnbürsten zu kaufen.
Dann hatte das Handy geklingelt. Gottlieb hatte sich wie immer kurz gefasst, war aufgesprungen, hatte Jacke und Laptop geschnappt und war davon gebraust. Ein Gruß, ein Kuss und Schluss.
Au ja, prima Idee. Schluss. Ich mache einfach Schluss. Mir reicht’s! Dabei hatte ich Putin, unserem in die Jahre gekommenen Hauskater, einen bitterbösen Blick zugeworfen, den er mit einem altersschwachen Fauchen beantwortet hatte und war zum ersten Mal in dreizehn Ehejahren aufgestanden, ohne den Tisch abzuräumen und ohne die Krümel wegzufegen.
Feierabend mit kochen, putzen, backen und bügeln, vorbei mit Rasen mähen, Tennissocken stopfen und Bierflaschen wegräumen.
Und dann hatte ich mich in mein erstes Abenteuer gestürzt und angefangen ein Buch zu lesen, das ich schon lange wieder einmal lesen wollte: das Märchenbuch meiner Kindertage.
War hinab getaucht in die Welt der Feen und Elfen und hatte sie alle vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen sehen. Das tapfere Schneiderlein, den Teufel mit den drei goldenen Haaren, Rumpelstilzchen und zu guter letzt den Bruder Lustig.
Und jetzt saß ich auf der Bank am Seerosenteich und blickte mit heiterer Gelassenheit auf die Ringe, die sich in immer kürzeren Abständen im Wasser bildeten. Die goldene Kugel fest in der Hand.
Mit ihr würde ich ihn anlocken. Sanft ließ ich sie durch meine Hände gleiten, sich das warme Licht der Abendsonne in ihr spiegeln.
Und wenn er endlich herausspringt, werde ich das tun, was sonst nur Prinzessinnen in Märchenbüchern und schlecht erzogene Mädchen in einschlägigen Etablissements tun. Ich werde ihn mit Blicken ver-zehren, ihn mit meinen Augen liebkosten, ihm schmeicheln und ihn umgarnen und dann werde ich ... ja, ich werde ihn küssen, leidenschaftlich und eine kleine Ewigkeit lang.
Und wenn der hässliche Frosch sich dann in einen Prinzen verwandelt hat, werde ich zu ihm aufs Pferd steigen und mit ihm fortreiten. Ach, was sage ich reiten, hinweg schweben werden wir und dieses elende langweilige Einerlei hinter uns lassen. Und Gottfried werde ich von Ferne ein letztes Adieu zuschmettern.
Als ich sein kaltnasses glitschiges Maul mit meinen Lippen berühre, schlagen die Kirchenglocken sechs. Der Frosch macht quack und springt wortlos wieder von meiner Hand herunter.
Aus dem Wohnzimmer dröhnt das schallende Gelächter von Gottfried herüber.
Entsetzt lasse ich die Kugel fallen und folge dem Frosch in den Teich.
Wir sind glücklich. Keine Frage. Nur der Verzehr von Insekten macht mir immer noch zu schaffen. Und das wir Frösche alle gleich aussehen.